Aus: DIE ZEIT


Von Christel Buschmann


Doktoren und Professoren sterben vor Schreck, rasende Reporter erleben Sensationen und kommen nicht zu Worte, wackere Polizisten suchen, finden und verschwinden, denn „das Ding“ ist fürchterlich: ein infernalisch blutrünstiges Monstrum, ein Naturphänomen außerhalb jeder gesunden menschlichen Erfahrung, ein Übel „älter als die Menschheit und größer als das bekannte Universum“, die „Verneinung von Materie, kosmischer Gültigkeit und Ordnung“.


Simple Gespenster und Chimären bei Edgar Allan Poe, Huysmans oder E. Th. A. Hoffmann sind dagegen zahme Erscheinungen; blasphemische Greuel des Marquis de Sade lieblich gegen den Horror von H. P. Lovecraft: „Cthulhu“, Geistergeschichten, aus dem Amerikanischen von H. C. Artmann; Insel Verlag, Frankfurt; 239 S., 18 DM.


Anthropologen, Geologen, Geomorphologen, Ethnologen, Psychologen, Philosophen, Archäologen – keiner kann „das Ding“ erklären. Nur Kenner schwarzer Magie und entlegenster okkulter Schriften finden schließlich in jeder der sechs Geschichten – jeweils nach qualvollstem Studium – des Rätsels Lösung; sie ist katastrophal genug, sie gleich um den Verstand und wenig später um ihr Leben zu bringen. Selbstverständlich ist der Tod eine Gnade, denn die Erinnerung an „das Ding“, „the ecstatic fear“, „das Grauen“, wie Lovecraft es auch nennt, wäre nicht auszuhalten.


Das „nicht mehr menschliche Bestialwesen“ hat ein bocksähnliches, kinnloses Gesicht, eine Krokodilsbrust und die Glieder prähistorischer Riesensaurier. Aus seinem gummiartigen Unterleib hängen zahllose grünliche Tentakeln mit roten schmatzenden Mündern und eine Art Rüssel oder Fühler. Auf jedem Hüftknochen sitzt ein rudimentäres Auge, und aus sämtlichen Öffnungen tröpfelt permanent eine stinkende grünlichgelbe Flüssigkeit.


Die Signale seiner Existenz sind Verfall und Gestank. Die Obszönität des Verwesungsgeruchs und das deformierte Alter sind die Symptome des Bösen, die in den Geschichten stereotyp wiederkehrenden Warnzeichen. Das zentrale Grauen manifestiert sich schließlich in einem widerwärtigen Mangel an Form: „gallertartig“ ist Cthulhu, der Idiotengott aus einer anderen Dimension, der mit seinen Horden seit „unabsehbaren Äonen“ in der Leichenstadt R’lyeh auf dem Grunde des Ozeans ruht – in Erwartung der Apokalypse.


Das Unförmige, Dekadente, Kretinismus und Idiotie sind in Lovecrafts Phänomenologie des Grauens die entscheidenden Faktoren. Lovecraft (in Providence/Rhode Island 1890 geboren und 1937 gestorben) hat eine programmatisch kosmische Phantasie und kultiviert zugleich einen ambitionierten Realismus. Er verbindet Mythos und Science Fiction zur Beschreibung eines Universums, dessen zentraler Dämon Vernichtung, Ekstase und Freiheit garantiert. Lovecraft ist Visionär und gleichzeitig wissenschaftlich exakter Theoretiker; diese Verbindung macht „Cthulhu“ zu einem Horrorerlebnis, das mit der Angst vor dem Krachen hinter dem Schrank nicht zu vergleichen ist.

„Cthulhu“ ist ein literarisches Kuriosum, sein Autor ein verdammt gewissenhafter Nervenkitzler mit allen Qualitäten, auch hartgesottenen King-Kong- und Frankenstein-Experten leises Schaudern zu ermöglichen.


Die größte Gnade auf dieser Welt ist nach Lovecrafts Theorie das Unvermögen des menschlichen Geistes. Aber einst wird kommen der Tag, da die Wissenschaften, von denen heute noch jede in eine eigene Richtung zielt, ihre Erkenntnisse zusammenfügen und so schreckliche Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, daß die Menschheit entweder dem Wahnsinn verfällt oder „aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen wird“.


Die Zukunft hat lange begonnen. „O diese zartrosa Lämmerhirne!“.

Gallertartiger Idiotengott


H.P. Lovecraft "Cthulhu"

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CHRISTEL BUSCHMANN

Autorin          Regisseurin

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