Aus: DIE ZEIT


Von Christel Buschmann


Die literarische Avantgarde macht es dem Leser nicht leicht. Jüngere und ältere Experimentatoren scheinen sich darüber einig zu sein: warum einfach, wenn es auch kompliziert geht. Das Lesen ihrer Produkte ist intellektuelle Schwerarbeit, bei der nicht selten verstohlene Sehnsüchte nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit wach werden.


Gerade wieder einmal ist eine hochkomplizierte Dichtungsmaschine eines versierten Technikers in Umlauf gesetzt worden. Es ist „die Geschichte eines Herrn, der sich fragt, wie er einen Roman schreiben soll, den ich schon geschrieben habe“; so jedenfalls kommentiert es der Autor in seinem vierten Roman – Claude Mauriac: „Die Vergrößerung“ (Originaltitel: „L’Agrandissement“), aus dem Französischen von Elmar Tophoven; Nannen Verlag, Hamburg; 152 S., 14,80 DM.


Claude Mauriac, Sohn des Nobelpreisträgers François Mauriac, Film- und Literaturkritiker und Autor mehrerer Essays über Literatur und zeitgenössische „Aliteratur“, gehört zu der Gruppe des Nouveau Roman. Sein Werk erregte – anders als in Frankreich und Amerika – bei uns bisher kein großes Aufsehen. Zwar wurde sein erster Roman, „Toutes les femmes sont fatales“ (1957), mit dem – so sollte man meinen – zugkräftigen Titel „Keine Liebe ließ ich aus“ und einem keinesfalls prüden Umschlagbild auf den Markt geschickt, doch blieb die deutsche Leserschaft kühl, Auch die beiden folgenden Romane „Le dîner en ville“ (1959), deutsch „Ein Abendessen in der Stadt“, und „La marquise sortit à cinq heures“ (1961), deutsch „Die Marquise ging um fünf Uhr aus“, erfüllten nicht den Verlegertraum vom Kassenschlager.


Der Herr nun, der Reflexionen über den Entwurf des von Maurice bereits veröffentlichten Romans „Die Marquise ging um fünf Uhr aus“ anstellt, die ihrerseits den Stoff der „Vergrößerung“ bilden, heißt Carnéjoux, Schriftsteller von Beruf. Dieser „Bertrand Carnéjoux, ist eine dreifache Person, da er angeblich die Bücher schreibt, in denen er selber als Held eine Rolle spielt. Ein Romancier belebt durch einen Romancier, den ich, Mauriac, selber ein Romancier, in einen Roman gesteckt habe...“


Bertrand also steht auf dem Balkon seiner Wohnung im Stadtteil St. Germain-des-Près in Paris, schaut auf die Kreuzung Buci, Mittelpunkt des ehemaligen Existentialistenviertels, und beobachtet das Fortgehen seiner Frau Martine und seiner Tochter Rachel. Das ist die äußere Handlung des Romans. Interessant nun ist es zu sehen, wie sie ein 152 Seiten starkes Buch auszufüllen vermag, das keineswegs zum Gähnen verführt.


Der beschriebene Zeitraum umfaßt knapp zwei Minuten. Der Roman ist die „Vergrößerung“ der ersten zwei Minuten des die Dauer einer Stunde umfassenden dritten Romans „Die Marquise...“ Vergrößert wird ein sich im Bewußtsein Bertrands vollziehender Denkprozeß. „Das bei seinem ewigen Sprung nach vorn in sich selbst zusammengeballte Denken ist nur zu erfassen, wenn es so verlangsamt wird, daß es stillzustehen scheint.“


„Wir denken sehr schnell, ohne die Anfänge der Ideen, Erinnerungen, Pläne, Beobachtungen weiterzuentwickeln, die alle miteinander verschachtelt sind und die uns genügen, im großen und ganzen zu begreifen, was wir im einzelnen nicht nachprüfen. Da dieses potentielle Wissen in meinem Roman befreit werden muß, wird eine gewisse Dauer die Augenblicklichkeit darin ersetzen – so kommentiert Mauriac-Bertrand sein Vorgehen.


Indem er den Denkvorgang vergrößert (aber: „der winzigste denkbare Bruchteil der Zeit dauert noch zu lange, als daß ich hoffen könnte, ihn zu erschöpfen“), indem er der „Augenblicklichkeit“, also der äußeren Zeit von zwei Minuten, die ihr nicht kongruente „Dauer“, das heißt eine innere Zeit, entgegensetzt, wird dem Leser ein Zeitablauf nur noch dann bewußt, wenn Vorgänge geschildert werden, an denen er ablesbar ist: ein junges Mädchen, das sich am gegenüberliegenden Fenster schminkt, ein Telephon, das klingelt, oder eine Ampel, die aufleuchtet. Sie wird im Verlauf des Romans rot (Seite 7), gelb (Seite 72), grün (Seite 86), und wiederum gelb (Seite 152).


Bertrand führt in Gedanken Gespräche mit einer Vielzahl von Personen. Personen, die er auf der Kreuzung sieht, Personen, die nur sein geistiges Auge wahrnimmt: seiner Frau, seiner Tochter, zwei Jünglingen, einem alten Herrn, einem Schwarzen, einem Professor, einem Touristen. Abwechselnd und sprunghaft versetzt er sich in sie hinein: „Denkbare, mögliche Figuren, die ich ausprobiere, stets bereit, sie fallenzulassen, wenn es mir glaubwürdiger oder bequemer erscheint, sie zu ersetzen.“


Zu einem nicht geringen Teil liegt der Reiz des Romans in der übergangslosen Konfrontation sich ähnelnder oder widersprechender, oft direkt aufeinander Bezug nehmender Gedankengänge verschiedener Menschentypen. Allerdings wird dem Leser ein gutes Maß an Konzentration und Scharfsinn abverlangt, will er das Gedacht- Gesprochene jeweils der richtigen Person zuordnen. Aber ihm wird durch den ständigen Perspektiven Wechsel auch etwas geboten: neben der Fachsimpelei eines versessenen Schriftstellers die eines verliebten Mädchens, einer enttäuschten Frau, eines alternden Mannes.


Welche Bedeutung Mauriac seiner Gesprächstechnik beimißt, zeigt das Vorwort zur „Vergrößerung“, ein Zitat Bertrands: ,,Zu den Grundproblemen der heutigen Literatur gehört nicht nur das Problem des inneren Monologs, sondern auch das jener inneren Monologe, die einander antworten, und auf diese Weise innere Dialoge werden, ohne daß die Beteiligten den Mund zu öffnen brauchen, um offenherzig zu reden“


Was in der Terminologie Mauriacs „innerer Dialog“ heißt, entspricht dem, wofür Nathalie Sarraute 1956 in ihrer Essaysammlung ,,L’ère du soupçon“ den Begriff der ,,sous-conversation“ gefunden hat.


Die aus der Abwendung vom traditionellen Roman entstandenen Forderungen des Nouveau Roman nach Unmittelbarkeit und Genauigkeit haben Konsequenzen, wie sie am Beispiel der „Vergrößerung“ aufgezeigt werden können: Der Romancier ist Hauptfigur, denn, so formuliert Mauriac, „Schreiben“ ist ,Beschreiben‘ oder ‚gar nichts‘... ‚Was weiß ich... vom Leben eines Pariser Arbeiters oder eines jungen Mannes schwarzer Rasse. Unvermeidlich schwache Stellen meines Romans...“. Erzählt wird in der Gegenwart, nicht etwas, das sich ereignet hat, sondern etwas, das sich ereignet. Der Roman entsteht unmittelbar vor den Augen des Lesers. Der beschriebene Zeitraum wird zugunsten der Genauigkeit auf ein Minimum begrenzt.


Sartre prägte 1948 in einem Vorwort zu Nathalie Sarrautes „Portrait d’un Inconnu“ für diese von der Reflexion beherrschte Gattung den mittlerweile zum Schlagwort avancierten Begriff vom Anti-Roman. Schon in den neunziger Jahren entstand ein solcher Anti-Roman mit Gides „Paludes“, einem Text, der daraus besteht, daß der Verfasser erzählt, wie er „Pa-Indes“ schreibt. Mauriac schafft einen neuen Begriff, den des roman essai, des Essayromans. Er charakterisiert treffend die „Vergrößerung“, denn sie enthält eine ganze Reihe von Essays, Essays über Film, Photographie und Malerei und ihre Beziehungen zur Literatur, über Philosophie und Probleme der Literatur, insbesondere über die Situation des Gegenwartsromans und das von Mauriac vielfach variierte und definierte Stilmittel des „inneren Dialogs“.


Claude Mauriac weist sich als hervorragender Kenner nicht nur der Literatur, sondern auch der Handhabung ihrer Mittel aus. Sein Romanessay ist von einer handwerklichen Qualität, die die meisten deutschen Gegenwartsromane leider vermissen lassen. Bei allem Raffinement der angewandten Technik ist er jedoch nicht, wie viele Produkte des Nouveau Roman, so schwer zugänglich, daß einem die Lust am Lesen vergeht. Zudem ermöglicht er einen Blick in die Gefahrenzone, in die sich das reflektierende Genre begibt. Denn mit der Reflexion kommt der Zweifel, der Zweifel an der Möglichkeit, Realität und Wahrheit sprachlich überhaupt erfassen zu können. Er verleitet Mauriac- Bertrand zu der schön pathetischen Äußerung: „Man müßte den Mut haben, nicht zu schreiben.“ So dankbar man manch einem Autor wäre, wenn er solchen Mut bewiese – im Fall Mauriac freut man sich der Feigheit.

Roman als Mikroskop


Claude Mauriac "Die Vergrößerung"

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CHRISTEL BUSCHMANN

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