Aus: DIE ZEIT


Von Christel Buschmann


Also sprach Arno Schmidt: „Von allem, was täglich für die Vergangenheit geschrieben wird, ist ihr am sichersten der Müll zeitgenössischer Buchbesprechungen verfallen ... Was könnte mir, der ich mindestens 1000 Tage an ein Opus wende, wohl ein Rezensent sagen, der bestenfalls drei zur Verfügung hat?“


Es ließe sich schon etwas denken, aber garantiert nichts, das Gnade fände vor den Augen des Meisters.


Denn auch wenn man mehr als drei Tage Zeit hat für solche ausschweifenden Unternehmungen wie „Zettels Traum“ (34 Zentimeter breit, 44 hoch, 8 dick, 9,1 Kilo schwer, 1352 DIN-A3-Seiten entsprechend rund 7000 normalen Druckseiten) und das letzte, eigentlich auch recht monströse, gleich dagegen eher heftchenartig wirkende Opus Arno Schmidt: „Die Schule der Atheisten“, Novellen-Comödie in sechs Aufzügen; S. Fischer Verlag, Frankfurt; Typoskript Format 24,5X34 cm, 272 S., brosch. 42,–DM, L.64,–DM. – gewisse Handikaps bleiben, selbst nach endlosem Studium. Nie wird man nämlich so viel, oder dasselbe wissen wie Schmidt, statt den ganzen Freud hat man nun vielleicht ausgerechnet gerade etliches von Marx gelesen, man ist ungünstigerweise auch nicht so alt und erfahren wie Schmidt (geboren 1914), man hat womöglich nicht immer in der Einsamkeit der Heide (Bargfeld: 10° 20’ 53” ö. L. /52° 42’ 20” n. Br.) wohnen und ein Leben führen können, „daß daneben ein Säulenheiliger wie ein Lebemann wirkt“ (Schmidt) – kurz und gut: man ist eben nicht Arno Schmidt, geschweige denn Schmidt und noch ein bißchen mehr.


Das sollte einen aber nicht verdrießen. Denn neben dem Autor (der sich bekanntlich ohnehin nie herabließe, all den Besprechungsabfall, den seine Frau Alice sorgfältigst sammelt, eigenäugig zu lesen) gibt es ja glücklicherweise noch den einen oder anderen Leser seiner Werke, dem man etwas Neues sagen könnte.


Zum Beispiel: Was ist ein „Kulturträger“? Kulturträger persönlich wissen auch das natürlich leider schon: Kulturträger sind erstens und im besondern Arno-Schmidt-Leser, zweitens und im allgemeinen diejenigen Mitglieder einer Nation, „die sich nun wirklich fleißig, mit viel Ausdauer, viel Kosten, viel Mühe und Feinempfinden in die Kunstwerke vertiefen, die die Menschheit besitzt“ (Schmidt). Wieviel Kulturträger gibt es? Etwa 390. („...Die Zahl dieser Kulturträger erhalten Sie, wenn Sie die dritte Wurzel aus P ziehen, wobei P für Population oder Bevölkerung steht.“) Sind Sie. ein Kulturträger? Wie Sie wollen, Prüfungen müssen nicht abgelegt werden. Was allerdings einmal offizielle Instanz zur Überprüfung von Kulturträgern werden könnte: das „Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat“. Vorerst besteht hier aber keine Gefahr, da das Syndikat zur Zeit selbst noch mit der Entzifferung des Werkes schleppend vorwärtskommt (in Zukunft wird diese zu verfolgen sein in dem soeben zum erstenmal herausgebrachten „Bargfelder Boten“, dem Spezialorgan der Schmidt-Gemeinde).

Nichtsdestotrotz ist es den meisten Kritikern immer noch um Längen voraus, von denen ja einige noch nicht einmal selber ausprobiert haben, daß Schmidts Gartenzaun „king“ macht und unter anderem mit dem ersten „king“ in „Zettels Traum“ gemeint ist. Dem Dechiffriersyndikat ist also fast sowenig zu imponieren wie dem Meister selber.


Zum Glück gibt es aber noch jene Schattengruppe am Rande, die „schon etwas blassere Aura von vier- bis fünftausend“ (Schmidt) Unbedarfteren, denen man mit simplen Informationen kommen darf.


Also: „Die Schule der Atheisten“ kann einhändig aus dem Schuber herausgenommen werden, was bei „Zettels Traum“ noch nicht möglich war, sie erfordert keine Extrakonstruktion in der Bücherwand und hat bei einem Format von 24,5 mal 34 Zentimeter (Verkleinerung des DIN-A3- Manuskripts auf DIN A 4 plus 10 Prozent) 272 Seiten, die aus rund anderthalb Millionen Buchstaben bestehen, entsprechend 750 Normalbuchseiten. Mit Schmidt vertraute Leser schaffen sechs bis sieben Seiten in einer Stunde, andere vier bis fünf. Verlagsprognose: „Wendet man die Abende und zwei Wochenenden daran, so sind für eine erste Lektüre 10 bis 14 Tage ausreichend oder 45 bis 65 Stunden.“

Die Konzeption fällt in die Jahre nach Abschluß der Arbeit an „Zettels Traum“ (1969), die Niederschrift erfolgte 1970/71, nachdem Schmidt die Übersetzung von Bulwer-Lyttons Roman „Was wird er damit machen“ (1231 Seiten) beendet hatte. „Die Schule der Atheisten“ knüpft sowohl an die aus „Zettels Traum“ bekannten Experimente mit der Form des „dialogisierten Romans“ an als auch an Bulwer, aus dessen utopischem Roman „The Coming Race" er die Idee einer kommenden Frauenherrschaft über effeminierte Männer übernahm.

Die Form des Typoskripts ergab sich nicht von ungefähr: „Die Texturen von Zettels Traum und Schule der Atheisten schließen eine Folge von Einfügungen ein, die eng mit dem Stoff verbunden sind, wenn auch nicht zur eigentlichen Handlung gehören: Lesematerialien, Vorschläge für Denkspiele, Hinweise des Autors aus seiner Kulisse. Im Drucktext würden solche zusätzlichen Glieder des Textkörpers als Anmerkungsapparat eine Abstufung erfahren, die Spontaneität verlieren, die sie im Typoskript auszeichnet... Im Typoskript erscheinen diese Exkurse wie Abschweifungen in einem lebhaften Briefwechsel, sie bleiben aus erster Hand und sind in den Text einamalgamiert.“ Abgesehen davon, daß ein Maschinensatz durch anderen Zeilenfall das Textbild stark verändert und außerdem komplizierte und kostspielige Satz- und Korrekturarbeiten zur Folge gehabt hätte. Der Pressedienst gibt ungewöhnlich ausführlich Auskunft. Damit es nicht so weit kommt, daß Rezensenten sich überhaupt nicht mehr an Arno Schmidts Riesenwerke heranwagen oder sich alles allein aus den Fingern saugen.


Denn Arno Schmidt ist ein gebranntes Kind und seine Arroganz gegenüber Kritikern begreiflich.


In den ersten zehn Jahren etwa nach Erscheinen seines ersten Buches „Leviathan“ (1949) war man aus Unkenntnis des Gegenstandes so frei, mehr zu empfinden als zur Sache zu sagen: Von der Emotion diktiertes, aus heutiger Perspektive fast unbegreifliches fanatisches Loben und Tadeln standen sich gegenüber. Was dem einen „der bedeutendste Erzähler der Gegenwart“ war, „ein Poet“, „ein wirklicher Dichter“, „eine fast grelle Begabung“, „ein klotziger Autor“, war dem anderen „ein Tobsüchtiger aus der Lüneburger Heide“, ein mieser „Provinzler“, allenfalls ein „zorniger Kleingärtner“, ein „Kinder- und Kirchenschreck“, ein literarischer „Waldschrat“. Einige machten sich die Mühe, ihre Ratlosigkeit literaturwissenschaftlich einzukleiden. So entstand ein Riesenbezugssystem von Namen quer durch die ganze Literaturgeschichte: Rabelais, Fischart, Wieland, Heine, Raabe, Holz, Stramm, Döblin, Ringelnatz, Benn, Beckett, Kafka ... „Hermann Löns u. Paul Keller mal Klopstock dividiert durch James Joyce = Arno Schmidt.“


Schmidt provozierte nicht nur mit seiner schwer zugänglichen Erzähltechnik, auch seine Weltanschauung verstörte damals viele. Er bekam Anzeigen wegen Gotteslästerung, im RIAS traute sich jemand zu bemerken, er würde den Verkehr zu einem Manne abbrechen, der solche Zoten wie Schmidt erzählte, der „Mannheimer Morgen“ bat Gott, „unsere Literatur zu schützen“, Kurt Ziesel sah sich angesichts Schmidtscher Prosa zu der Frage veranlaßt, ob wir „in einem Tollhaus oder im Abendland“ wohnen, und Luise Rinser wurde schlecht: „Wir stehen mitten in einem Kahlschlag, den ein Tobsüchtiger um sich gelegt hat und der uns als das Zeugnis einer vollkommenen Verwilderung alles Seelischen frösteln macht, ja Übelkeit verursacht.“


Aus dieser „Kampfzeit“ rührt der harte Kern der Arno-Schmidt-Gläubigen, hier liegen die Wurzeln zu dem Heiligenkult, den einige Verehrer heute mit peinlicher Unterwürfigkeit betreiben, was Schmidt ebenso schmeichel- wie ekelhaft finden dürfte.

Der Zahn der Zeit nagte, obszön ist auch nicht mehr das, was es mal war, die Bücher verkaufen sich, wenn auch sachte. Da Arno Schmidt die Jahre nicht untätig vorüberziehen ließ (er arbeitete bis vor kurzem noch hundert Stunden die Woche), hat er sein Wort- und Bildungsgut (und seine Zettelkästen) erheblich angereichert und immer kompliziertere Prosatechniken entwickelt. Dennoch ist nicht einzusehen, weshalb viele sich, was die „Schule der Atheisten“ anbelangt, mit gewitztem Gleichmut hinter der Behauptung verschanzen, sie sei allenfalls für Arno Schmidt selber lesbar. „Die Schule der Atheisten“ nämlich ist gegenüber „Zettels Traum“ geradezu ein Kinderspiel, und man beginnt wieder zu ahnen, was Hans Mayer und Helmut Heißenbüttel meinten, wenn sie Schmidt vor langer Zeit einen verhinderten Volksschriftsteller nannten.


Die äußere Form ist die einer Komödie in sechs Aufzügen, unterteilt in achtzig Auftritte. Die sechs Aufzüge decken sich mit knapp sieben Tagen, die meist vom Morgen bis zum Abend dauern. Zeit und Ort werden vor jedem Aufzug jeweils genau benannt, es sind dies: Tellingstedt (Dithm.) im Jahre 2014 und der Dampfer „Königin Kandace“ 1969 auf einer Fahrt im Pazifik. Der Leser kann sich also, was Zeit und Ort der Handlung angeht, immer leicht orientieren. Und auch die redenden Personen sind jeweils, wie im Dramentext, nicht zu verkennen. Tellingstedt ist der Ort der „Rahmenhandlung“, auf dem Pazifik findet das „Dazwischenspiel“ statt. Den Handlungsablauf nun allerdings kurz zu skizzieren, ist fast unmöglich, da sich entgegen Schmidts Prinzip, als „extremer Realist“ sich „der Fiktion pausenlos-aufgeregter Ereignisse“ zu verweigern, allerhand abspielt.


Eine Weltkatastrophe hat stattgefunden (wie schon in „Brands Haide“ und der „Gelehrtenrepublik“), und nur noch zwei Weltmächte existieren, USA und China. Und was noch übriggeblieben ist: ein deutsches Reservat an der Eider, Tellingstedt eben, das unter dem Schutz der USA dahinvegetiert, unter lokaler Betreuung des weisen, alten Friedensrichters Kolderup, Büchersammler, in der Weltliteratur höchst bewandert und auch sonst sehr Schmidt-verdächtig (d’s hat en andrer gesagt, nicht ich; ’s ist aber dennoch wahr“). Tellingstedt nun wird im Oktober des Jahres 2014 heimgesucht von Isis, Außenministerin der von Frauen beherrschten USA, und ihrem Anhang inklusive „Begattern“. Von China naht zur gleichen Zeit Außenminister Yan Schi Kai in einer Rakete. Hauptzweck der Begegnung ist der Abschluß eines gegenseitigen Duldungsvertrages beider Mächte, notwendig geworden, weil unbekannte Flugprojekte vom Mars in Tschekiang niedergegangen sind. Verhandlungsort: Kolderups Haus. Hier prallen nun vier Tage Weltanschauungen aufeinander: In Tellingstedt sind die Christen so gut wie ausgestorben, der Antrag des Pfarrers auf Neuherstellung von Bibeln wird abgelehnt. China hat sich zum traditionellen Patriarchat zurückentwickelt, in den USA entstand ein Supermatriarchat (Männer dienen als Samen- und Lustspender, die neue Version des Faust ist da: Dr. Grete verführt, angestachelt von Mephista, ein verschüchtertes Faustchen). Und Menschen prallen aufeinander: Quer durch den Garten wird sehr volkstümlich geliebt. Auf der dänischen Insel Fanö kommen zumindest die politischen Aktionen zum Abschluß, außerdem hat man das unsagbare Glück, aus einem ehemaligen Hause der Kolderups wertvolle Schätze aus der Zeit vor der Katastrophe zu bergen, unter anderem vier Exemplare eines unverständlichen, aber hoch verehrten Buches: „Zettels Traum“.

Im Verlauf des fünften und sechsten Aufzugs nun wechseln Szenen aus Fanö mit Szenen von der Reise im Pazifik, das „Dazwischenspiel“ beginnt. Kolderup, die einzige übergreifende Figur, erinnert sich aus einleuchtendem Anlaß einer Reise zur Propagierung des Atheismus im Jahre 1969. An Bord der „Königin Kandace“ befinden sich drei Atheisten und zwei Missionare. Mysteriöse Vorfälle bringen den Dampfer in Seenot, die Passagiere werden auf eine Insel verschlagen, sehen sich dort gefährlichen „Erscheinungen“ ausgesetzt und müssen eine Grenzsituation bestehen. Wie sie diese meistern, macht die Schule der Atheisten aus.


Was noch für „Zettels Traum“ galt, daß nämlich die Unmenge des zwischengeschobenen Zitat- und Diskussionsmaterials aus zum Teil entlegensten Bildungsbereichen es unmöglich machte, den Handlungsablauf zu verfolgen – hier ist es kein Problem. Arno Schmidt hat nicht nur eine lebendige Mischform von Erzählung und Drama gefunden, sondern auch eine gelungene Synthese von Erzählung und Essay. Wer die Nüsse der Zitatanspielungen, -umkehrungen und Direktzitate nicht knacken und Denkanleitungen und -anreizen nicht folgen will, den läßt die abenteuerlich phantastische Handlung dennoch auf seine Kosten kommen. Und die Philologen unter den Lesern haben doppelten Spaß.


Wieland ist ein großes Vorbild für Arno Schmidt. Eine Grundforderung Wielands hat er mit der „Schule der Atheisten“ erfüllt: Die amüsablen unter den Lesern finden Anlaß zu einer reinen, unendlichen Vergnügung des Geistes. Was die Vergnügung unter anderem so unendlich macht, ist natürlich die eigene Unfähigkeit, alles in den Griff zu kriegen. „Finde den Weg!“ sagt die Klappe. Und vor allem, finde ihn froh, möchte man hinzufügen, still derer gedenkend, die bei jedem ihnen unbekannten Namen beschämt in sich zusammensinken.


Lektüre für 65 Stunden


Arno Schmidt "Die Schule der Atheisten"

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CHRISTEL BUSCHMANN

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