Aus: DIE ZEIT


Von Christel Buschmann


Arno Schmidt hat wieder einmal den Deckel seiner Raritätenkiste gelüftet. Ans Tagesicht kommen ver- und unbekannte deutsche Dichter.


Der Band enthält wie seine Vorgänger „Belphegor“ (1961) und „Dya Na Sore“ (1958) literarische Gespräche über in den dunklen Verliesen der „Nationalliteratur“ zu Unrecht verschollene Autoren, denen Schmidt zu einem literarischen Comeback verhelfen will. „Vergessene Kollegen“ sind diesmal: der Spätbarockdichter Barthold Hinrich Brockes (1680 bis 1747), das Hainbundmitglied Samuel Christian Pape (1774 bis 1814), Kerl Gutzkow (1811 bis 1878), zusammen mit Heinrich Laube Wortführer des Jungen Deutschland, Gustav Frenssen (1863 bis 1945), Aushängeschild des Nationalsozialismus, schließlich auch der Romantiker Tieck und wieder einmal: Stifter. Im Falle Tieck und Stifter handelt es sich nun allerdings im Gegensatz zu Brockes, Pape, Gutzkow und Frenssen nicht vornehmlich um Rettungsaktionen vor dem Untergang, sondern um Revidierungen bisheriger Forschungsergebnisse, Kritik an „fälschlich Überbewertetem“, um neue Aspekte und neue Interpretationsmöglichkeiten.


Schmidts Methode – die sechs Studien sind als Runefunk-Features angelegt – erweist sich auch für eine Buchveröffentlichung praktikabel. Er breitet die Fülle seiner Materialien in Form von Gesprächen aus. Die Zahl der Dialogpartner wechselt; mindestens einer von ihnen läßt sich stets als Schmidt identifizieren, ausgestattet mit Schmidtschem Universalwissen, seinen Ticks und Überzeugungen („Mir ist jeglicher Beruf verdächtig, der zu seiner Ausübung einer besonderen Kostümierung bedarf“), ein Meister in der Zähmung aufmuckender Opponenten.


„Wer den Teufel wecken will, der muß laut schreien.“ Nach dieser Goethe-Devise lärmend rühmt Schmidt Gutzkows „Die Ritter vom Geist“ und liefert eine dreifache Begründung für seine Huldigung an diesen 3000-Seiten-Roman. Den ersten Vorzug sieht er in der sich im Titel aussprechenden Konzeption des Romans: Das wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische und nicht zuletzt künstlerische und wissenschaftliche Heil einer Nation könne weder von oben, durch Herrscheradelgeistlichkeit“, noch von unten, vom Volke, kommen, sondern, wie Gutzkow sagte, nur durch eine „Organisation der Elite“, „die Ritter vom Geist“. Ein zweiter Vorzug seien die „lupenrein photographierten ‚Dias‘ der Einzelbilder“. Diese Formulierung ist eine Reminiszenz an Schmidts „Berechnungen“, seine zum Teil auf

Phototechnik basierende Ästhetik. Und schließlich das dritte Plus: Mit Gutzkow habe die Prosaform einen gewaltigen Schritt nach vorn getan. Gutzkow, der versuchte, die Vielschichtigkeit sozialer und geistiger Tendenzen in Romanen des „Nebeneinander“ darzustellen, erscheint mit der Vorwegnahme Joycescher Theorien als Wegbereiter der Moderne.


Brockes ist für Schmidt eine Wiederentdeckung wert, weil er der „erste wirkliche Realist und Kirchenvater deutscher Naturbeschreibung“ ist. Schmidt, der sich selbst zu der Gruppe „extremster Realisten“ zählt, wiederholt in diesem Zusammenhang seine zuerst 1956 in Texte und Zeichen veröffentlichten Äußerungen über Realismus, die von grundlegender Bedeutung für seine gesamte Erzähltechnik sind: „Das Verfahren des echten Realisten ergibt sich, ihm aus der Erkenntnis, daß ‚In Wirklichkeit‘ viel weniger ,geschieht‘, als die katastrophenfreundlichen Dramatiker uns weismachen wollen. Das Leben besteht, was ‚Handlung‘ anbelangt, aus den bekannten kleinen Einförmigkeiten: also verweigert man sich als Realist ‚um der Wahrheit willen‘ der Fiktion pausenlos- aufgeregter Ereignisse...“ Und er beschwört wieder den klassischen Zusammenstoß von 1850 zwischen Stifter und Hebbel und die Überzeugungskraft des „Sanften Gesetzes“.


Als eine „Übung in Toleranz“ passiert das Gespräch über den zeitweise dem Nationalsozialismus verfallenen Frenssen, dessen 1300-Seiten-Roman „Otto Babendiek“ (entstanden etwa in den Jahren 1923 bis 1926 und laut Schmidt besser als Dickens’ „David Copperfield“) dem Lesepublikum in einer ungekürzten Ausgabe wieder zugänglich gemacht werden sollte. Schmidt: „Wohlbemerkt, ich setze mich nicht für eine Frenssen-,Renaissance’ ein; ich bin doch kein Narr!“ Aber: „Frenssen müßte unbedingt geröntgt werden!“

Postumes Lob widerfährt auch dem letzten Hainbunddichter Pape und seiner „vergessenen Dichtung aus Moor und Heide“. Die Ausvahl der zitierten Pape-Texte überzeugt, und die Beschränkung auf ein relatives Minimum polemischer Effekte zugunsten größerer Sachlichkeit erhöht die Überzeugungskraft des Plädoyers.


In der Tieck-Studie erklärt Schmidt die Gleichung von Romantik und Weltfremdheit als Ungleichung und unternimmt eine Neudeutung des „falschesten aller Begriffe“, an der nicht alles neu ist: Romantik ist für ihn Ausdruck des „verwegensten Realismus in Lebensführung und Kunst“ und der bewußte Versuch, thematisch, formal und sprachlich den künstlerischen Ausdruck für die Überzeugung von der „Instabilität“ der Welt wie des Einzellebens zu finden. Dieser Definition folgend, kennt er vier „echte“ Romantiker: Tieck, Hoffmann, Brentano, Fouqué. Abgewertet werden Novalis, Arnim, Hauff, Eichendorff.


Schmidt entwickelt bei der Aufdeckung der Schwächen und Werte von Untersuchungsobjekten der Literaturwissenschaft ein pseudo- literaturwissenschaftliches Verfahren. Er bedient sich einer literaturwissenschaftlichen Terminologie, legt aber nicht methodisch gewonnene Maßstäbe an, sondern bezieht die Kriterien für eine negative oder positive Beurteilung – sie liegen oft außerhalb des literarischen Bereichs – ausschließlich aus der Subjektivität seiner Welt- und Dichtungsanschauung.


Auch Stifter kommt unter seinen Realismushammer. Sein „Witiko“ (der „Nachsommer“ empfing bereits in „Dya Na Sore“ das Todesurteil) ist ein „lächerlich unrealistisches Buch“ („so unnötig im Handel jederzeit erhältlich“) und seine Sprache die eines „steifleinenen Schulfuchses“. Als „pappene, zweidimensionale Welt-Attrappe“ kann Schmidt den „Witiko“ nicht zu den tausend Büchern des eigenen Volkes rechnen, die man kennen sollte. Er setzt den Akzent auf den jungen und mittleren Stifter und gibt damit wieder einmal seiner Aversion gegen Alterswerke Ausdruck. Besonderer Angriffspunkt bei Stifter ist für den notorischen Dorfatheisten und Antimilitaristen Schmidt noch dessen Gottgläubigkeit und militärfreundliche Gesinnung, wie überhaupt in allen Studien das Verhältnis zu Kirche, Staat und Militär Gesprächsangelpunkte sind. Und wehe dem, der fromm ist und Militarist!


Eine ganz besondere Delikatesse hält Schmidt dem Leser für den Schluß bereit: Er macht den in „Sitara“ für May nachgewiesenen Pan-Sexualismus auch für Stifter fruchtbar, in dessen Landschaftsbildern er Organabbildungen erkennt, Projektionen von Genitalien. Anlaß zu einem Kalauer: nicht Genialität, sondern „Genitalität“!


Schmidt lobt den Gleichgesinnten, tadelt den Andersdenkenden, rühmt den Realisten, verurteilt den Nichtrealisten. Er propagiert auf einem Umweg über „vergessene Kollegen“ eigene Thesen und Überzeugungen. Er verehrt in ihnen Vorformen Schmidts. Der ihnen direkt gezollte Beifall ist indirekte Anerkennung der eigenen Person. So handeln seine biographisch-historischen, literaunwissenschaftlichen, soziologischen Gespräche letzten Endes alle von Schmidt selber. Sie sind Leckerbissen für Schmidt-Fans und solche, die es werden wollen. Genüßlich spitzt er seine schon bekannten Giftpfeile – Ziele sind: Goethe („weniger GOETHE!“), Germanisten (romantische Ironie – einer der „gängigen Germanistenwitze“), Nobelpreisverleihung („CHURCHILL ja; JOYCE nein!“), Rezensenten („sind immer verhinderte Produzenten“). Und schließlich kommt auch der zu „Brotarbeit“ verurteilte Autor zur Sprache und seine Liebe zu Karteien, Lexika, Staatshandbüchern und Meßtischblättern.


Schmidts Richtersprüche sind parteiisch, aber Polemik und die oft subjektive Manieriertheit seines Vorgehens können seine Leistung, neue Perspektiven zu eröffnen und wissenswerte Informationen zu liefern, nicht mindern. Selbst da, wo Argumentation und Urteil nicht überzeugen, regen sie immerhin zur Bildung oder Überprüfung einer eigenen Meinung an. Und wem die Materie gar nicht behagen sollte, der kann sich an dem Paradebeispiel einer glänzend geführten Diskussion begeistern, deren Stoff Schmidt durch Zwischenbemerkungen und Anspielungen, durch Herstellen der Beziehung von Vergangenheit zu Gegenwart, Transponieren einer heutigen Terminologie auf frühere Zustände und aggressive Zeitkritik zu aktualisieren versteht. Eingestreute Bonmots, Aphorismen und Maximen („Pumpe nie einem Polytheisten“) steigern das Vergnügen.


Schmidt bietet viel. Mit einem ernsten und einem boshaft lachenden Auge präsentiert er – ein Provokateur des Widerspruchs – dem Leser zum drittenmal einen Band geistvoller Gespräche, die manch einen erbosen mögen. Doch all diesen versichert Schmidt: „Ich begrüße Opposition in jedem Fall. Wie sagte Jean Paul Marat sehr richtig? ‚Unruhe ist die erste Bürgerpflicht!‘–“

Den Teufel wecken


Arno Schmidt: "Die Ritter vom Geist"

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CHRISTEL BUSCHMANN

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